Wolf Hockenjos April 2017
Durch lokal überhöhte Wildbestände sind für die artenreiche Verjüngung des Waldes vielfach noch Schutzmaßnahmen erforderlich. Hier sind vor allem die Jäger gefordert. (Aus: Die Mark Brandenburg. Brandenburgs Wälder. Heft 104 – Verl. für Regional- und Zeitgeschichte, 2017.)
Nein, es war kein Aprilscherz: Am 1. April 2017 veranstaltete die ANW Brandenburg in Templin/Uckermark eine Tannentagung. Die Landesgruppe gedachte damit ihren Beitrag zu der 2017 bundesweit ausgerufenen Weißtannen-Offensive zu leisten. Aber Weißtanne in Brandenburg, in „des Heiligen Römischen Reiches Streusandbüchse“? Was mag man sich hier von dieser Baumart versprechen, weit jenseits ihres natürlichen Verbreitungsgebiets, und das auch noch unter dem Vorzeichen des Klimawandels? Die Anreise durch die Schorfheide mit ihren schier endlosen Kiefernbeständen ließ die Skepsis nochmals anwachsen, nicht zuletzt eingedenk des spätestens seit wilhelminischen Zeiten bekanntermaßen exorbitanten Stellenwerts der Jagd und der hierzulande „lokal überhöhten Wildbestände“ – Reichsforst- und Reichsjägermeister Hermann Göring, erst recht Erich Honecker und Erich Mielke lassen grüßen.
Dass das Tannenthema dennoch auf ein überraschend großes Interesse stieß, zeigte die stolze Teilnehmerzahl von nahezu einhundert Forstleuten, die teilweise sogar noch aus den benachbarten Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt herbeigeeilt waren. Das lag sicher nicht nur an den Referenten des Vormittagsprogramms, die die waldbaulichen Potenziale der Weißtanne und ihre Vorzüge wie auch ihre Nachteile von allen Seiten beleuchteten. Gespannt blickte man vor allem auf die nachmittägliche Exkursion in den Templiner Stadtforst: Sollte es hier tatsächlich Nischen geben, in denen bereits erfolgreich mit der Tanne gearbeitet worden ist, in denen sie künftig ausweislich der Standortskarte mit Fug und Recht eingepflegt werden kann und soll, auch und gerade unter Zugrundelegung fortschreitender Erwärmung? Ganz und gar abwegig schien ein solches Vorhaben nicht zu sein, wie schon der vormittägliche Vortrag von Prof. Dr. Peter Spathelf (Waldbauliche Optionen mit der Weißtanne in Brandenburg) aus dem nahen Eberswalde versprach. Und wie man mit dieser Baumart trotz schwierigster Wald/Wildprobleme durchstarten kann bei ausgeprägtem waldbaulich/jagdlichem Geschick und entsprechender Konsequenz, das hat vormittags auch Stefan Schusser vom sächsischen Forstbezirk Eibenstock eindrucksvoll aufgezeigt.
Dennoch war klar, dass sich die Exkursion vorwiegend innerhalb von Wildschutzzäunen bewegen würde, wo doch der 3.500 ha große Stadtforst Templin umklammert ist von Privatjagden mit extrem hohen Rot-, Dam-, Reh- und Schwarzwildbeständen, auf die der den Stadtforst leitende kommunale Revierförster Jürgen Schuppelius bereits vormittags hingewiesen hatte. Weil hier jedoch mittlere bis kräftige Standorte mit realistischer Aussicht auf eine naturnahe Laubwaldmischbestockung überwiegen, wird derzeit auf 1.120 ha verjüngt, wobei auf 300 ha aktiver Waldumbau durch Laubholzpflanzung betrieben wurde – am goldenen Zügel von Fördermitteln, versteht sich, in Höhe von über einer Million Euro. Dass damit vorwiegend Zäune gebaut und unterhalten wurden, blieb unwidersprochen. Auf 37 % der Gesamtfläche seien die Bestände mehrschichtig, wobei in der Oberschicht die Nadelbäume eindeutig dominieren mit 61 % Kiefer, 6 % Fichte, 4 % Lärche und 2 % Douglasie/Tanne, gegenüber 13 % Buche, 5 % Eiche, 2 % Hartlaub- und 7 % Weichlaubbaumarten. Ober-, Zwischen- und Unterstand zusammengenommen, verringert sich der Kiefern- und Fichtenanteil zusammen auf 49 %, während sich der Buchen- und Eichenanteil auf immerhin 36 % erhöht, auch die Hartlaubbaumarten um 1 % zulegen und der Douglasien/Tannenanteil bei 2 % verharrt. Was sich hinter der Sparte Douglasie/Tanne verbirgt, wurde nicht näher erläutert.
Tatsächlich führte die Exkursion zunächst in einen gezäunten Kleinbestand von offenbar recht frohwüchsigen und teilweise geasteten, ca. 55 jährigen Tannen unter vereinzelten ca. 115 jährigen Tannen, Douglasien, Buchen und Roteichen. Wer wohl vor 115 Jahren auf die Idee mit der Tannenpflanzung verfallen und wie ihm die gelungen war, lasse sich leider nicht mehr rekonstruieren, da sämtliche alten Forsteinrichtungswerke verbrannt seien, so Schuppelius. Dass auch schon in wilhelminischer Zeit der Zaun unerlässliche Voraussetzung war, liegt auf der Hand. Auch die Weiterbehandlung, die, wie diskutiert wird, mittel- bis langfristig zu tannengemäßerer Struktur führen müsse, vermag man sich schlechterdings nur im Zaun vorzustellen. Immerhin beweist die Tanne am Standort (kräftige, mittelfrische Bänder und Staubsand mit lehmigem Sand der Jungmoräne) sowohl im Unter- als auch im Obergeschoss eine erstaunliche Vitalität.
Auch das nächste Exkursionsbild zeigte auf vergleichbarem Standort eine vor 14 Jahren in Streifen gepflanzte, wüchsige Tanne, diesmal unter einem auffallend langschäftigen, 143jährigen Buchen-Altbestand mit 60jährigem Unterstand. Lebhaft erörtert wird die Frage, wie aufwändig sich wohl die Erhaltung der Tanne in der überlegenen Buche gestalten werde: Muss sie nun fortwährend freigepflegt werden, wenn ihr die Buche über den Kopf wachsen soll? Oder lässt sich langfristig nicht auch an eine natürliche Automation denken, wonach sich unter Dauerwald-Voraussetzung die Tanne langfristig aufgrund ihres überlegenen Höhenwachstums und Alters doch durchsetzen wird?
Zum Schlussbild und zur Abschlussdiskussion über die Sinnhaftigkeit des uckermärkischen Weißtannen-Experiments versammelte sich die Exkursion unter Brandenburgs höchster Weißtanne, wie es ein Hinweisschild der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, Landesverband Brandenburg, verrät, im Jahr 2004 gemessen mit einer Höhe von 39,2 m bei einem Alter von 180 Jahren: Für die Allermeisten wohl ein ganz und gar unerwarteter Anblick, denn der offenbar kerngesunde und vitale Baum dürfte zwischenzeitlich nochmals kräftig zugelegt und die vierzig Höhenmeter längst übersprungen haben. Schade nur, dass man vor zwölf Jahren auf die Ermittlung von Brusthöhenumfang und Stammvolumen verzichtet hatte, sodass die Exkursionsteilnehmer nun auf eine (arithmetisch gemittelte) Schätzung von gut und gern 18 (!) Festmetern kamen – was doch für ein überzeugender Kronzeuge! Auch noch weitere Tannen ähnlichen Kalibers schmücken den frisch durchhauenen Buchenbestand, auf dessen Rückegassen sich das Fährtenbild eines enormen Rot-, Dam- und Rehwildbestands ablesen lässt. Auf nichts anderes lässt auch die Tatsache schließen, dass es den Tannenveteranen seit Anbeginn ihrer Fruktifikation vor anderthalb Jahrhunderten nicht mehr hat gelingen wollen, für überlebensfähigen Nachwuchs zu sorgen; ein Umstand, dokumentiert am Fuß der Rekordhalterin durch ein stark verbissenes Tännchen.
In der (eingangs zitierten) Broschüre, im Buchhandel erhältlich zum Ladenpreis von fünf Euro unter Mitwirkung des Brandenburger Forstvereins, wird als Gewährsmann für den Wunsch nach einer multifunktionalen Waldwirtschaft der (aus dem Schwarzwald stammende) Dichter Bertold Brecht zitiert, der im märkischen Buckow sein Domizil hatte: „Weißt Du, was ein Wald ist?“, lässt er den Herrn Puntila seinen Knecht Mati fragen, „Ist ein Wald etwa nur zehntausend Klafter Holz? Oder ist er eine grüne Menschenfreude?“ Ob der Dichter auch für die Weißtanne in den „Schwarzen Wäldern“ zu vereinnahmen gewesen wäre, darf bezweifelt werden. Wie sonst hätte er diese in seinem 1927 entstandenen Gedicht „Vom armen B. B.“ in Strophe 6 so garstig schmähen können:
Gegen Morgen in der grauen Frühe pissen die Tannen,
Und ihr Ungeziefer, die Vögel, fängt an zu schreien.
Um die Stunde trink ich mein Glas in der Stadt aus und schmeiße
Den Tabakstummel weg und schlafe beunruhigt ein.
Das Gedicht symbolisiere, so seine Interpreten, die Sinnsuche des modernen Menschen im Dschungel eines seelenlosen Häusermeeres. Hätte Bertold Brecht heute, inspiriert vom brandenburgischen Chirurgen und Waldwirt August Bier und dessen ganzheitlicher Betrachtungsweise, womöglich den von Menschen gemachten Klimawandel und dessen Auswirkungen auf den Wald ganz anders thematisiert? Ob mit oder ohne Weißtanne, Herr Puntila und sein Knecht hätten am Ende für die Bemühungen der Forstleute um die Zukunftsfähigkeit der Brandenburger Wälder gewiss Sympathien gezeigt.